Weihnachtsfrühfeier
Rudolf Reichenau
Wie lange diese Nacht währt!
"Noch nicht Morgen?"
"Nein" - so trübe die Nachtlampe brennt, das sieht man doch, das
Himmelbett der Eltern ist wohl leer, aber noch frisch aufgemacht, wie am Abend
- sie sind noch gar nicht schlafen gegangen. Es ist kalt - husch! in die Kissen
zurück! Die Eisblumen am Fenster, die sich immer dichter mit wunderbar
verschlungenen Ranken und Blätter überziehen, gestatten dem Sterne,
der mit so eigenem funkeln vom Himmel sieht, kaum noch den Einblick ins Zimmer.
Draußen aber knistert der Schnee unter dem Tritte des Wächters oder
kreischt laut vor Entsetzen über die frevelhafte Entweihung, wenn ein
verspäteter Frachtschlitten die Gleise befährt, die der Frost nicht
für irdische Fuhren so spiegelblank geputzt. Horch! Schon wieder dies
geheimnisvolle Regen! und immer lebendiger wird es. Bald ist es wie behutsame
Gewichtigkeit einer Männersohle, die sich Mühe gibt, leise zu treten,
bald wie Rauschen von Frauenkleidern; bald knacken verräterische
Treppenstufen, bald klingt es wie klappende Schranktüren oder wie
Schiebladen, die auf - und zugehen, bald wie ein Flüstern und
Räuspern im Flurgange; jetzt stößt es an, wie wenn große,
schwere Kisten getragen werden, oder es fällt gar zu Boden und rollt die
Diele entlang, ganz so wie ein Schachteldeckel. Dabei steht das Himmelbett noch
immer unberührt. - "Wenn die Auguste Rademacher doch recht
hätte! Wenn es doch die Eltern selbst wären, und nicht der Engel die
Bescherung brächte!"
Furchtbarer junger Zweifler im Ausschiebebettstellchen, vermessener kleiner
Fibelfaust, verzehre dich nicht in vergeblichem Grübeln über das
Unfassbare, von dem wir einmal nichts wissen sollen und nichts wissen
können. Ist dir der Friede deiner Seele lieb, lege dich ruhig wieder hin
und schlummere den Schlummer gläubiger Unschuld wie dein Schwesterchen,
dem das große Geheimnis der Nacht keine andere Unruhe verursacht, als
dass es wie ein Fragezeichen sein Beinchen über das Deckbett streckt.
Mitternacht ist vorüber, vom Turme haben Choralklänge die alte
Himmelbotschaft verkündet: Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf
Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!
Der Nachtlampe Docht fängt an zu verkohlen, das Öl wird knapp, und
das Wasser, auf dem es schwimmt, ist ein schlechter Feuerwerker; prasselnd,
zischend, spritzend fährt das Flämmchen noch einmal auf, gerade hell
genug, erkennen zu lassen, dass nun auf den Stühlen an dem Himmelbett
Kleider liegen; dann ist alles finster und still. "Noch immer nicht
Morgen?"
"Noch lange nicht. Soll ich dir meine Hand geben? Willst du ein
Schlückchen Wasser? - So, nun lege dich auf die andere Seite und schlafe
weiter."
"Auch jetzt noch nicht?"
"Nein. Schlafe nur ganz ruhig, du wirst schon geweckt werden."
Die Sonne wusste recht gut, weshalb sie gestern Abend so frühzeitig in die
entlegenste Südwestecke hinab sank, sie hat einen weiten Weg unten um die
ganze Erde herum, ehe sie wieder aufsteigt im Osten. Der Zeit aber ist das ganz
recht, sie will wieder einbringen, was in den übergeschäftigen
letzten Tagen an rennender Hast zuviel geschah, oder will sie, im
demütigen Gefühl ihrer Endlichkeit, ganz und gar vom Posten gehen und
der Ewigkeit selbst die Ehrenwache bei den hochheiligen Mysterien
überlassen? Dennoch schwingt der Pendel, die Zeigerrücken, der
Goldhammer hebt sich, wenn die schleichende Stunde endlich vollbracht ist.
Der Hahn wird unruhig auf seiner Latte, obwohl er weder selbst Bescherung
erwartet, noch für seine Familie heimlich aufgebaut hat. Er krähte
schon mehrmals und lässt sich nicht länger irre dadurch führen,
dass noch Mond und Sterne scheinen, er hat die Uhr im Kopfe. Die Hoftüre
wird geöffnet, der Widerhall des Hauses erwacht vom Scharren des
Kehrbesens, benutzt aber, verschlafen wie es alle sind nach den vielen
Störungen in der Nacht, jede kleine Pause, abermals einzunicken zur
köstlichen Nachtruhe. Es poltert im Ofen, Kleider werden geklopft, der
wache Morgen schreitet immer dreister einher, dringt immer weiter vor in das
Gebiet der Träume und ruft endlich, das blendende Licht in der Hand:
"Kinder, steht auf!" Endlich, endlich ist es Morgen! Morgen, der aber
doch immer noch Nacht ist, der einzige Morgen des ganzen Jahres, an dem auch
die kleinsten der kleinen Leute bei Lichte aufstehen - dies allein schon ein
Ereignis, eine Tat, ein Wunder - das reine Märchen! Nicht selten
müssen sehr kräftige Erweckungsmittel angewandt werden, um die
fesselnde Kraft der "himmlisch" warmen Betten zu überwinden.
Heute fährt das gesamte Aufgebot der Kinderbeine beim ersten Aufruf
zugleich heraus - wie ein Bein, und die Schnelligkeit des Ankleidens wird nur
von der fröhlichen Verwirrung, die sie erzeugt, übertroffen - und
gehemmt. Endlich trotz aller Konfusion fertig gekleidet, fügen sich die
Kleinen, die doch sonst nicht genötigt werden brauchen, nur der
kategorisch festgehaltenen Weisung, erst noch ruhig zu frühstücken.
Welch ein Zauber für die Kinderseele, eben wieder erstanden aus dem
Schlummer, rein und klar wie der sternhelle Morgen, in der ganzen,
unberührten Frische eines neuen Tagesleben, das noch kein, wenn auch nur
in unbewusster Trübung nachwirkender, schnell vergessener Streit, keine
paradiesaustreibende Unart entstellte - der höchste Freude des Jahres
entgegenzugehen! Welch ein Zauber in der Verschmelzung der Reize aller
Tageszeiten und der entgegengesetztesten Stimmungen, in dieser Nachtdunkel,
strahlendes Kerzenlicht und Morgenweihe, Entzücken und Andacht in eins
verwebenden, gleichsam zeitlosen Wunderwelt! Welch ein Zauber, wenn beim
wohlbekannten Klange des Silberglöckchens die Türflügel
aufgehen, von unsichtbarer Hand bewegt, als wären es wirklich
geflügelte Türen, und die stürmisch Herbeigeeilten, geblendet
von all dem Glanze, nun doch im ersten Augenblick wie erstarrt auf der Schwelle
stehen bleiben, bis der Eltern ermunterter Zuruf zum Nähertreten
auffordert - welch ein Zauber, wenn der ersten allgemeinen Freude die jubelnde
Besitzergreifung folgt, wenn ein jeder gerade das findet, was er "sich am
meisten gewünscht" - die Mädchen ihre Puppen, die sie gar nicht
mehr aus dem Arme lassen, die Knaben Trommeln und Trompetchen, deren lustiger
Schall den fernen Ruf der Glocken zur Frühpredigt doch nicht stört -
welch ein Zauber, wenn den Zweigen des Christbaumes jener eigentümliche
Duft entströmt, der, mit keinem anderen Wohlgeruch vergleichbar, noch in
der der Erinnerung so magisch wirkt, dass die Kinder schon wochenlang vor dem
nächsten Feste jeden verlöschenden Wachstock, von Wonneschauern mit
Vorahnung durchrieselt, begrüßen: "Es riecht nach
Weihnachten!" Welch ein Zauber auch dann noch, wenn endlich die
Fensterladen aufgemacht, die Vorhänge zurückgeschlagen werden und die
letzten tief herab gebrannten, immer matter brennenden Lichtchen im
Tannengrün die Morgenröte bescheint. Wie das glüht im Osten, wie
die Wolken sich türmen gleich goldigen Schneebergen über den
Nachbarhäusern, wie die Rauchsäulen so purpurdurchleuchtet empor
wallen! Es ist wie Opferdampf flammender Zedernscheite, der auf seinen
Schwingen die Andacht heiliger Beter empor trägt, nicht wie Rauch aus
gemeinen Kaminröhren, von gewöhnlicher Feuerstätten, auf denen
klafterweise gekauftes Birken- und Kiefernholz brennt, und Kaffee gekocht wird
wie alle Tage. - Und von der Höhe dieses morgens die Aussicht nicht wie
bei der Abendfeier auf das immer zu frühe Zubettgestecktwerden, nein - auf
einen ganz langen Tag, dessen frommes Gebot festlicher Muße die Spiel -
und Naschfreuden gleichsam zu einer Gewissenspflicht macht!
Rudolf Reichenau, 1817 -
1879 |
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