Aus der Weihnachtszeit
Isabella Braun
Es war Spätherbst geworden. Der kalte Nebel und die frühen
Abendstunden hatten die Familie um den Tisch versammelt, wo die Lampe brannte,
am obern Ende die Mutter mit dem Strickzeug, am untern aber Vroni mit der
Flickarbeit saß.
Wir plauderten von den Weihnachtshoffnungen, welche alle unsere Gedanken
erfüllten und uns zugleich Arbeit gaben, denn wir schrieben stets aufs
neue Wunschzettelchen fürs Christkind und ließen sie in die Nacht
hinausfliegen, damit die Engel sie beförderten. Unsere Wünsche
wechselten keineswegs oder häuften sich nicht an; wir dachten nur, das
Zettelchen möchte nicht schön genug geschrieben sein, denn beim
Schluss der langen Liste schüttelte die Mutter stets missbilligend den
Kopf und sagte: "Was wird das Christkind von euch denken?" So kam es,
dass diese Arbeit an jedem Abend von neuem begonnen wurde. - Dies galt
eigentlich nur von meinem Bruder und von dem Zettelchen, das ich für die
kleine Sophie schrieb, welche damals erst sechs Jahre zählte und an
kranken Augen litt. - Auf meinem eigenen Zettel standen nur die zwei Worte: Ein
Messerchen.
Bereits waren nämlich seit jenem Vorgang im Walde (die Kinder hatten im
Walde mit ihren Messern die Vogelschlingen des Jagdpächters zerstört,
da hatte der Vater ihnen die Messer weggenommen) drei Monate verflossen; der
Nikolausmarkt war vorüber; all die Herrlichkeiten in den Buden hatten mich
nicht gereizt, denn was ich wünschte, sollte ich nicht besitzen. O, nur
ein kleines, elendes Schnappmesser, wie es das ärmste Kind des Dorfes
besaß, flehte mein Auge. Der Vater war unerbittlich geblieben, und so
hatte ich keine andere Hoffnung als auf das Christkind. Das, dachte ich mir,
ist ja ein Kind; alle Kinder lieben die Messer; es versteht die Kinderherzen
und weiß auch, dass ich nie mehr einen Unfug mit meinem Messerchen
treiben werde; ihm will ich meinen Wunsch recht schön schreiben und sonst
gar nichts wünschen; gewiss erhört es mir ihn! Mit solchen
Unterhaltungen vertrieben wir uns die langen Abende und machten dabei
ordentliche Fortschritte im Schreiben. Während aber die andern ihre
Phantasie in Wünschen bereicherten, vertiefte ich mich immer mehr in
meinen einen Wunsch und sah bereits ein Wundermesser vor meinen Augen. Nebenbei
gab es auch heitere Gespräche aller Art vom lieben Weihnachtsfeste, und
besonders war es noch ein Gegenstand, der nicht nur des Abends, sondern bei
jeder Gelegenheit zum Vorscheine kam. Es war nämlich alter Brauch, dass
jedes Kind einen eigenen Laib Hutzelbrot mit darauf geklebtem Namen erhielt,
und an dieses Eigentum knüpfte sich noch etwas. Nur der erkorene Liebling
durfte am Weihnachtsabende vor der ganzen Versammlung diesen Hutzellaib
anschneiden, und das erschien uns stets als ein feierlicher, wichtiger
Augenblick der Erklärung, welche natürlich die Eltern nicht
einschloss, sonst hätten sicher der Vater den einen und die Mutter den
andern Gipfel anzuschneiden bekommen. Wenn unter dem Jahre eines im Dorfe
besonders in Gunst kam, hieß es flüsternd: "Dich lass ich
meinen Hutzellaib anschneiden", - oder es wurde mit dem verneinenden Worte
die Freundschaft gekündigt. Und wie eifrig um diese Gunst von klein und
groß geworben ward! Bald gab man diesem und jenem das Versprechen und
nahm es ebenso oft wieder zurück, um es einem andern zu erteilen; nur ich
blieb standhaft, und es war dies nichts Leichtes. Allabendlich sagte
Gärtner Xaver zu mir: "Horch, ich spiel dir ein schönes
Stücklein auf der Flöte; lässt du mich dann aber auch den Laib
anschneiden?" - Dabei benetzte er die Stelle, wo er in die Flöte
blies, mit der Zunge, was mir so sonderbar und wichtig vorkam, dass ich die
Augen nicht weg wenden konnte und meinte, darin liege das ganze Geheimnis der
Flötenblaserei, und wenn ich es nur einmal probieren dürfte, ich
könnte es danach gewiss auch. So gern ich nun mein Lieblingsstücklein
gehört hatte, blieb ich doch standhaft und antwortete dem Xaver wie allen
andern: "Nein, die Vroni darf ihn anschneiden."
Auch in diesem Jahre hatte ich alle Versuchungen zurück gewiesen, und
sooft mich Vroni zu Bett geleitete, die Decke an beiden Seiten fest einsteckte
und mich dann küsste, schlang ich meine Arme um ihren Hals und
flüsterte: "Du weißt schon was, Vroni?" - sie aber
flüsterte lächelnd entgegen: "Ist aber auch gewiss?" - und
dann nickte ich im Einverständnisse. Vroni liebt uns sehr, und es war ihr
eine Freude, dass ich vor der ganzen Versammlung jedes Jahr zeigte, wie
anhänglich ich ihr sei. Der Weihnachtsabend war nämlich bei uns ein
Familienfest, an dem beinahe der halbe Marktflecken teilnahmen durfte. Vom
Hausmeister und Bräumeister bis herab zum niedersten Gesinde war alles
geladen; die Stube war auch groß genug, alle zu fassen. Auch aus dem Orte
kamen die angesehensten Leute, dazu auch die Taglöhner, welche in des
Vaters Dienst standen, besonders durfte unter diesen die
"Marxen-Marei" nicht fehlen. Von dieser muss ich jetzt noch
ausführlich berichten, denn sie spielte in unserem Kinderleben eine sehr
wichtige Rolle.
Die Marxen-Marei oder Marie Marx, wie sie eigentlich zu deutsch hieß, war
nämlich eine junge Tagelöhnerin, welche bei der Feldarbeit die
oberste Stelle einnahm. Es lebte keine Handfestere, fleißigere Arbeiterin
im ganzen Ort als sie. Wenn sie mit der Gabel ins Heu stach und auflud, gab es
tüchtig aus. Dies ging so flink fort, dass in kurzer Zeit durch sie mehr
geschah, als von andern in langer Frist. Aber es rann der Schweiß auch in
dicken Tropfen über ihr braunes Gesicht; sie hatte Mannesstärke wie
ein "Dragoner". Ich wusste damals zwar nicht, inwiefern diese
Gleichnis passte; die Leute sagten einmal so und fassten damit den Inbegriff
aller Kraft zusammen. Sie schritt auch ganz anders einher als die andern
Mägde und schrie mit dicker Bassstimme, dass vor ihrem Befehl die Knechte
verstummten. Der Vater stellte sie den andern als Muster auf, und wenn sie nach
beendigter Arbeit vor des Torwarts Häuslein auf der Bank ausruhte, blieb
er nicht selten bei ihr stehen und hörte ihrem lustigen, tollen Geplauder,
ihren Hexen- und Geistergeschichten, von denen sie stets einen großen
Vorrat hatte, eine Weile zu. Niemand horchte jedoch lieber darauf als wir
Kinder. Wenn aber die Mutter oder Vroni uns bei ihr stehen sahen, kam die eine
oder andere, fasste uns an der Hand und zog uns Widerstrebende fort. Unbemerkt
wussten wir oft zu entkommen und kletterten zu ihr auf den Heuboden oder auf
den geladenen Wagen, wo wir uns gebärdeten wie lauter kleine
"Marxen-Mareien". Sooft dieses vorfiel, geschah das Seltsamste, die
Mutter zankte mit unserer Vroni, und einige Male hatte diese bitterlich
darüber geweint bis in die Nacht hinein, dass die Tränen auf mich
niederträufelten, als sie mich zu Bette brachte. Damals hielt ich meine
Vroni mit beiden Armen umschlungen und flüsterte: "Lass dir was
sagen, ich bleib nie mehr bei der Marxen-Marei stehen, wenn sie auch noch so
schöne Geschichten erzählt." - Das sagte ich aus großer
Liebe zu Vroni, und es kostete mich eine harte Überwindung, denn ich
wusste gar nicht, warum ich nicht bei der Marxen-Marei bleiben sollte. Jetzt
freilich weiß ich es: sie war die ehrlichste, treueste Seele von der
Welt, aber sie hatte auch zugleich die rauesten aller Dorfmanieren, und sie
gefielen mir ausnehmend wohl, besonders ihre derbe schwäbische Aussprache
und ihre lustigen Lieder. Wie viel ich schon in ihrer Schule gelernt hatte,
wusste ich freilich nicht; aber Vater und Mutter gewahrten es mit bedenklichem
Kopfschütteln.
Bereits waren wir in der Christwoche angelangt, wo die Herzen so unendlich
erwartungsvoll schlagen. Wir hatten den Kutscher Lukas den großen
Tannenbaum eines Morgens in den Hof schleppen und denselben hinter der
Türe einer Kammer verschwinden sehen, wo für unsere Begriffe
unendliche Geheimnisse walteten. Auf dieser Türe war ein in Wolken
gehülltes Weib abgebildet, was der Kammer den Namen gab: zum Wolkenweibe,
und uns mit solcher Scheu erfüllte, dass wir uns kaum in ihrer Nähe
zu reden getrauten. So war uns also mit dem Einzug des Baumes in diese Kammer
das geheimnisvolle Walten der Christengel gewiss. Aber vor dem Weihnachtsfeste
lockte noch ein wunderbar glücklicher Abend, der einzige außer der
Christnacht im ganzen Jahre, wo wir über die neunte Stunde aufbleiben
durften. An diesem Abend wurde der große Tisch seines Teppichs
entkleidet, auf die Mitte der sauber gefegten Tannenplatte aus einem daneben
stehenden Schäfflein die gekochten Hutzeln geschüttelt. Jedes bekam
ein Messer und durfte nun die Hutzeln in dünne Scheiben zerschneiden. Es
war eine Ehrensache, dass keines davon aß; nur des Vaters Liebling, das
kleine blauäugige Schwesterlein, bekam hie und da ein Schnitzchen, denn
sie konnte noch nicht mitschneiden und sollte doch auch ihre Freude haben.
Hernach kam die Platte mit Mandeln, Nüssen, Feigen, Zitronen, und all das
wurde klein zerschnitten. Dabei sang die Mutter schöne Lieder und
erzählte Geschichten; der Vater kam auch dazu, und so gab es ein trautes,
liebes Familienfest.
Diese Freude war jedoch nicht die einzige, welche mich in jener Nacht
erwartete; es gab noch eine andere im dunkeln Hintergrunde, auf welche ich
jedes Mal harrte und die vielleicht manchem meiner Leser unerklärlich sein
mag.
Es war herkömmlich, dass in aller Frühe nach jenem Abende Vroni mit
ihrem Öllämpchen vor mein Bett trat und mich weckte. Rasch
schlüpfte ich in mein Röcklein, stand auf und folgte ihr. Am untern
Ende des Zimmers stand der Ofen und davor ein großer Backtrog. Darin lag
das Mehl, und in der Mitte war mit der Hand eine Grube gemacht für den
Sauerteig. Dahin geleitete ich nun meine Vroni; ich durfte Wasser
zuschütten und dann gegenwärtig sein, wenn nun der Teig geknetet und
endlich das Hutzelbrot bereitet wurde. Auch in der eben besagten Nacht, ehe ich
nach dem Hutzelschneiden zu Bette ging, bat ich Vroni, mich gewiss zum
Wasserzuschütten und Brotkneten zu wecken, und ich schlief mit fester und
ruhiger Zuversicht ein, obgleich ich keine Antwort erhalten hatte. Aber was
geschah? Als mich Vroni weckte, schien mir nicht das Öllämpchen in
die Augen, sondern der hellste Tag herrschte in der Stube und - vom Ofen war
der Backtrog verschwunden. Zuerst sah ich wie vom Traum verwirrt umher, und als
mir alles klar und ich überzeugt war, Vroni habe mich um dieser Freude,
welche in 365 Tagen nur ein einziges Mal kam, betrogen, weinte ich heftig,
stieß Vroni, welche mich beschwichtigen wollte, zurück, nannte sie
eine Betrügerin und war selbst durch die herbeieilende Mutter nicht zu
beruhigen, ich war nun einmal tatsächlich betrogen und zwar von Vroni, an
die ich so fest geglaubt hatte. Sie tat alles, was mich zu jeder andern Zeit
entzückt hätte, aber ich wollte keine Freundlichkeit von ihr. Auch
meine Geschwister konnten mich nicht beruhigen. Anton sagte in seiner ehrlich -
derben Weise: "Dummes Ding, sei froh, dass man dich hat ausschlafen
lassen! Da möchte ich auch so einen Lärm machen um nichts! Was hast
du denn vom Schütten, Kneten und Backen? Mir ist's nur um das Essen zu
tun, und das Hutzelbrot wird ohne dich auch gut geworden sein." - Aber ich
entgegnete noch mehr entrüstet: "Schweig, das verstehst du nicht,
weil du ein Bub und kein Mädchen bist!" und es ist nun einmal wahr,
Vroni hat mich betrogen! ich mag sie nicht mehr, mein ganze Leben lang nicht
mehr!" -
Als an jenem Abend Xaver mir ein Stücklein auf der Flöte blies und
dann wieder die alte Frage stellte, lag es mir schon auf der Zunge:
"Ja!" - aber ich schwieg doch. Am Abende saß Vroni betrübt
und schweigsam am Tisch, denn ich hatte sie noch nicht ein einziges Mal
angeschaut. Ich schrieb wie gewöhnlich meinen Wunsch dem Christkindlein;
ich war jedoch so zornig, dass die Schrift schlecht ausfiel und die Mutter
sagte: "Meinst du, von einem so unfreundlichen Kinde werde das Christkind
ein Zettelchen lesen?" - Ich aber entgegnete rasch: "Das Christkind
betrügt nicht und ist selbst unfreundlich gegen alle, welche
betrügen." Auf diese Worte hatte die Mutter nichts zu erwidern, denn
wie oft hatte ich dieselben aus ihrem eigenen Munde vernommen! Als Vroni immer
traurig blieb, stieß mich Anton heimlich voller Mitleid; aber ich
fühlte keines, es war mir recht, ich gönnte ihr die Traurigkeit. Das
war eine schlimme Weihnachtsvorbereitung! O, wer den Glauben an einen geliebten
Menschen so leicht verliert, ist stets auf bösem Wege, und auf diesem Wege
wandelte ich nun.
So ging es fort, zwei, drei Tage. - Die Hutzellaibe lagen gebacken auf dem
Brett, jedes trug das angeklebte Zettelchen mit dem Namen des Eigentümers.
Ich las auch den meinen, und es war ein ganz besonders großer Laib. Ich
maß ihn mit den Augen, und als ich allein war, nahm ich sogar das Ende,
meines Schürzchens und maß ihn gegen die andern ab; wahrhaftig, er
war größer als die übrigen! Was sollte ich davon denken?
So kam der Weihnachts - Vortag heran, ein furchtbar langer, öder Tag! Die
Minuten schlichen gleich Stunden und die Stunden gleich Tagen; das Herz pochte
gleich der Uhr, nur nicht so regelmäßig. Das Essen schmeckte keinem
von uns, und dazu hatte jedermann zu tun, niemand fand Zeit, mit uns zu reden
oder zu spielen. Alle Zimmer waren entweder verschlossen, oder wenn wir die
Schnalle drehten, schob sich ein Riegel vor, und wir mussten beisammen im
Kinderzimmer bleiben. Wir beneideten unser Schwesterlein, das nachmittags
mitten auf dem Boden einschlief. Wir konnten nicht schlafen, nicht spielen; wir
wussten und auch nichts zu sagen, denn unser ganze Herz war eine Erwartung.
Anton machte den Vorschlag, immer auf sechzig zu zählen, um die Minuten
abzumessen; als wir es aber auf tausend gebracht hatten und auf der Uhr noch
keine Viertelstunde vorüber war, fanden wir diese Mittel, die Zeit zu
beflügeln, völlig untaugsam. Endlich wurde es Nacht; endlich
zündete Vroni im langen Gange die Lampen an; endlich rückten die
Leute aus dem Dorf ein.
Und nun, heiliger, lieber Christabend! Strahle vor mir in deiner ganzen Pracht!
Drinnen im großen Zimmer erschallte die Glocke; es war das Zeichen, auf
das wir den ganzen Tag mit klopfendem Herzen gewartet hatten. Die
Flügeltüren öffneten sich, ein Meer von Lichtern strahlte uns
entgegen; unter der Türe stand der Vater und sah uns mit den himmelblauen
Augen liebeselig an; daneben stand die Mutter, jeder Zug ihres frommen
Gesichtes lächelte und winkte uns. Schüchtern, als läge vor und
das Paradies, traten wir näher; schüchtern, wie die Hirten vor der
Krippe, falteten wir die Hände. Leisen Trittes traten wir an der Hand der
Eltern ein, leise folgte uns die ganze Versammlung und stellte sich in einiger
Entfernung auf. Jetzt setzte sich die Mutter ans Klavier, spielte einen Choral
und sang das Weihnachtslied. Alles kniete nieder und stimmte ein in den
wohlbekannten, einfachen Sang. Das Lied war verklungen, wir erhoben uns,
atmeten tief auf, und mein Schwesterlein war die erste, welche zum Baume und
zum Tische hüpfte. Das endete unsere Scheu, und wir dachten nun jetzt mehr
daran, ob das Christkindlein wohl auch unsere Wünsche beachtet habe; die
Augen überflogen rasch den Tisch, und die meinen suchten das Messerchen.
Da lag viel, viel; aber das eine, was ich so sehnlich gewünscht hatte -
fehlte. Ich machte die Runde um den Tisch, ja, es fehlte! Das Christkind hatte
mich nicht erhört. Da zog ein Schmerz durch meine Kinderseele; aber als
ich aufblickte, sah ich des Vaters Auge freundlich ermunternd auf mir ruhen; er
trat zu mir, er führte mich an der Hand zu allem, was mir gehörte,
und sagte mir dessen Bestimmung, wo ich es nicht wusste; auch die Mutter kam,
und der Geist Gottes, welcher über dem Raume schwebte, senkte sich auf
meine junge Seele; ich fiel den Eltern freudig um den Hals, wie meine
Geschwister taten, und wir waren alle sehr glücklich.
Nun traten auch, von den Eltern herbeigerufen, alle Eingeladenen herzu, und
jedes bekam seinen Anteil. Da erscholl lautes Freudengeschrei, alles sprach und
drängte durcheinander zu Vater und Mutter hin; es gab nicht mehr Herr und
Diener, es war nur eine große Familie. Xaver hatte eine neue Flöte
erhalten und blies gleich ein schönes Stücklein, und dies brachte
wieder Ruhe und Ordnung in die lauschende Versammlung.
Jetzt war der zweite wichtige Augenblick gekommen: wir erhielten unsere
Hutzellaibchen, und es lagen die Messer bereit, sie anzuschneiden.
In diesem Augenblick verschwand von mir der gute Geist, und der Dämon des
Zornes gewann über mich seine Macht. Ich hielt meinen Laib in den beiden
Händen und das Messer dazwischen. Ganz in meiner Nähe stand Vroni;
sie lächelte mir zu in sicherer Erwartung. Da wallte der Zorn in meiner
Seele; rasch kehrte ich mich von ihr - ein suchender Blick flog im Kreis umher;
Xaver sah es und blies zum Scherz in seine Flöte; mein Auge aber blieb wo
anders haften, und ein boshafter Gedanke zündete in meiner Seele. Da stand
die "Marxen-Marei", sie, mit der ich nicht verkehren sollte, sie, die
unfreiwillig zu manchem Verweis, den Vroni bekam, Ursache gegeben hatte. Ich
eilte auf sie zu, bot ihr das Messer und schrie laut: "Da schneid an,
Marxen-Marei, und schneid tief hinein!" - In diesem Augenblick eilten
Sophiechen und Anton, von dem guten Geist geleitet, zu unserer Vroni und boten
ihr den Laib. Marei aber ergriff das Messer, nahm den Laib zwischen die derben
Fäuste und schnitt ihn mitten durch. Aber das Messer fand Widerstand an
einer hölzernen Schachtel. "Ei, was ist das? hier steckt etwas!"
- rief sie verwundert, und alles drängte sich um uns, nur Vroni blieb in
der Ferne stehn. Marei schnitt nun auf der andern Seite den Leib, - sie kam
auch hier an die Schachtel und löste nun rings das Brot ab. Richtig, - ein
Schächtelein war mitten hinein gebacken. Mit zitternden Händen
ergriff ich es, machte es auf, oben lag ein beschriebenes Papier und mit einem
Blicke erkannte ich Vronis Handschrift. Da stand: "Meiner lieben braunen
Bill von ihrer treuen Vroni"; - unter dem Zettel aber lag ein Messerchen,
o, ein Messerchen, wie ich nie zuvor und nie später eines gesehen habe.
Der Griff war glänzend wie Silber und stellte eine Laute vor; als ihn der
Schein der Lichter beleuchtete, schimmerte er in allen Farben; es war, wie man
mir sagte, Perlmutt und kam aus dem tiefen Meer. Aber nicht genug, das Heft
hatte noch einen anderen Schmuck und es war eine Anspielung auf die Geschichte,
deren wegen ich solange kein Messer haben sollte: Ein Vöglein war darauf
gemalt. - Ich atmete tief auf, ich hatte kein Wort - ein Freudenrausch benahm
mir die Gedanken. Als ich aufblickte, war ein leerer Raum zwischen mir und
Vroni entstanden; ihr Auge ruhte mit innigem fragenden Blick auf mir. - Jetzt
begriff ich alles! - Also darum hatte sie mich nicht geweckt? Sie wollte
heimlich das Messer ins Brot backen und mir die große Überraschung
und Freude bereiten. Waren es nicht die Engel, welche mit ihren goldenen
Flügeln an der Spitze des Baumes rauschten und mir das in die Seele gaben?
Ich flog stürmisch auf meine Vroni zu, fiel ihr um den Hals, küsste
sie, und wir lachten beide unter Tränen. Nun holte ich die zwei
Hälften meines Laibes, fügte sie zusammen und rief: "Er ist ja
noch gar nicht angeschnitten! Vroni, schneid das Gipfelchen, aber ein
großes, herab!" Und dies tat sie auch! -
Jetzt erst war für mich die echte Weihnachtsseligkeit gekommen, und nun
war mir, als sängen die Engel: "Friede den Menschen auf Erden, die
eines guten Willens sind." Der Abend verstrich heiter wie noch nie zuvor
ein Weihnachtsabend. Ach! es war der letzte im Vaterhause! Im Frühling
darauf erlosch das hellste Licht, welches einem Kinde leuchten kann auf dem
Lebenswege: das Lebenslicht in den Augen des Vaters. - Viele, viele Jahre sind
inzwischen verflossen. Wieder ist es Weihnacht; Vater, Mutter und Bruder feiern
sie im Himmel, nur Sophie und Vroni leben noch.
Indem ich diese niederschreibe, klopft es an meine Türe. Herein tritt der
Postbote und bringt mir einen großen runden Pack. Hastig reiße ich
die Umhüllung hinweg, obwohl ich den Inhalt bereits kenne. Da liegt ein
Hutzellaib, die alljährliche Weihnachtsgabe unserer nunmehr alten Vroni
und dabei ein Zettelchen: "Zur Erinnerung an die Kindheit und das
Vaterhaus."
Segen über sie und alle treuen Herzen gleich dem ihrigen!
Isabella Braun, 1815 -
1886 |
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