Weihnacht in Winkelsteg
Peter Rosegger
In der heiligen Christnacht sind die Leute schon wieder von allen Seiten
herbeigekommen. Die von den Spanlunten abgefallenen Glühkohlen sind lustig
hingeglitten über die Schneekruste wie Sternschnuppen.
Viele Wäldler sind in ihrer Sehnsucht nach der mitternächtigen Feier
ein gut Stück zu früh daran. Da die Kirche noch nicht aufgesperrt und
es im Freien kalt ist, so kommen sie zu mir in das Schulhaus. Ich schlage Licht
und da ist bald die ganz Schulstube voll Menschen. die Weiber haben
weiße, bandartig zusammengelegte Tücher um das Kinn und über
die Ohren hinaufgebunden. Sie huschen recht um den Ofen herum und blasen in die
Finger, um das Frostwehen zu verblasen.
die Männer halten sich fest in ihren Lodengewändern verwahrt. Sie
behalten die Hüte auf den Köpfen, sitzen auf den Tischbrettern der
Schulbänke und besehen mit wichtigtuender Bedächtigkeit die
Lehrgegenstände, welche die Jüngeren den Älteren erklären.
Einige gehen auch über den Boden auf und ab und schlagen bei jedem Schritt
die gefrorenen Schuhe aneinander, dass es klappert. Fast alle rauchen aus ihren
Pfeifen. Der Urwald ist auszurotten, aber das Tabakrauchen nimmer.
Ich kleide mich rasch an, ich soll in der Kirche doch der erste sein.
Jählings klopft es sehr stark an meine Tür. Die Waldleute klopfen
nicht; wer ist es also? Eine weiße Schafwollenhaube guckt herein und
unter der Haube steckt ein alter Runzelkopf mit schneeweißen
Lockensträhnen. Also gleich erkenne ich den Waldsänger. Heute
trägt er einen gar langen Rock, der bis zu den Waden hinabgeht und mit
Messinghäkchen zugeknöpft ist. Darüber hängt ein
Schnappsack und eine Seitenpfeife; und auf einen Hirtenstab stützt sich
der Alte und seinen braunen, weltumfassenden Hut hält er in den
Händen. dieser Hut ist seine Hütte und sein Heim und seine ganze
Welt. Ein guter Hut, denkt er, ist das beste im Weltgetümmel; und der Erde
Hut nennen sie den Himmel. "Was hocket Ihr denn da, Ihr
Bärenhäuter!" ruft der Rüpel laut und lustig,
"draußen scheint schon lang die Sonnen! - Gelobt sei der Herr; und
ich bring euch die wundersame Mär, die sich heut zugetragen hat drunten in
der Bethlehemstadt. Hört ihr keine Schalmei und kein Freudengeschrei? So
luget zum Fenster hinaus; taghell beleuchtet ist jedes Haus!"
Die Leute stecken richtig die Köpfe zu den Fenstern; aber da ist nichts
als der finstere Wald und der Sternenhimmel. - Was sollten sie ansonsten denn
noch sehen? Der Alte guckt schmunzelnd nach links und nach rechts, wie viel er
wohl Zuhörer habe. So nach stellt er sich mitten in die Stube hin, pocht
mit dem Stocke mehrmals auf den Fußboden und hebt so an zu reden:
"Da steh ich allein draußen auf der Heid und schau schläfrig
herum weit und breit und treib mein Schäflein zusamm; hab dabei gehabt ein
wutzerfeists Lamm. Und wie ich das anschau eine Weil, da hör ich ein Ghetz
und ein Gschall, grad hoch in der Luft, es ist wahr; und sie musizieren sogar.
Ich hab nit gewusst, was das bedeut't und wer denn da tobt voller Freud. Die
Lämmlein sein gsprungen drauf, eins nach dem andern auf; das feiste hat so
lieblich plärrt, wie es das Wunder hat gehört. Drauf seh ich - hab
gmeint, `s ist ein' Mär - kleine Bubn fliegen in Lüften umher. - Ein
Engel fliegt grad auf mich zua, den frag ich: Was gibt's denn heut, Bua? Da
schreit es gleich lustig und froh:"Gloria in excelsis Deo!" - Das
kunnt ich, mein Eid, nicht verstehn: Geh, Bübel, musst deutsch mit mir
redn; ich bin ein armer Hirt in der Gmein und die Lämmlein können
auch nit Latein. - "So mach sich der Hirt nur geschwind auf und geh er
nach Bethlehem drauf, dort wird er finden ein neugebornes Kindelein; ja gar ein
wunderschön Kind liegt zwischen Esel und Rind. Nicht in einem
Königsaal, nur in einem Ochsenstall, nur in einem Ochsenstall liegt unser
eingefatschter Gott, der uns hilft in aller Not."
Das ist des alten Sängers "Botschaft", die er während der
Weihnachtszeit in allen Häusern verkündet.
Wir haben ihm einen kleinen Botenlohn gegeben, da sagt er noch ein paar heitere
Sprüche und humpelt wieder zur Tür hinaus.
Die Leute sind ganz schweigsam und andächtig geworden; und erst, als die
Kirchenglocken zu läuten anheben, werden sie wieder lebendiger und
verlassen, unbeholfen in Worten und Geberden, die Stube.
Ich habe das Licht ausgelöscht, das Haus verschlossen und bin in die
Kirche gegangen. Das ist die Nacht, in der vom Orient bis zum Okzident die
Glocken läuten. Ein Freudenruf schallt durch die Welt und die Lichter
strahlen wie ein Diamantgürtel um den Erdball. - Auch in unserer Kirche
ist es licht wie am hellen Tage, nur zu den Fenstern schaut die helle Nacht
herein. Jeder hat ein Stück Kerze oder gar einen ganzen Wachsstock
mitgebracht; denn in der Christnacht muss jeder seinen Glauben und sein Licht
haben. Die Leute drängen sich zum Kripplein, das heute an der Stelle des
Beichtstuhles aufgerichtet worden ist. Ich habe vor mehreren Jahren aus Linden-
und Eschenholz die vielen kleinen Figuren geschnitzt und sie zur Versinnlichung
der Geburt Christi zusammengestellt. Es ist der Stall mit der Krippe, mit dem
Kindlein, mit Maria und Josef, mit Ochs und Esel, es sind die Hirten mit den
Lämmlein, die heiligen Könige mit den Kamelen; es sind andere
spaßhafte Männchen mit Gruppen, wie sie Freude, Wohltun und Liebe
zum Christkinde nach der Leute Auffassung ausdrücken sollen. In der Luft
hängen die Engel und die Sterne und im Hintergrunde ist die Stadt
Bethlehem. Was der Rüpel weiß zu sagen in Worten, das will ich durch
diese Bilder erzählen. Und die Leute erbauen sich an dieser Darstellung.
Aber sie halten sie, Gott sei Lob, eben nur wie ein Bild, von dem sie wissen,
dass es nichts bedeuten und nichts wirken kann als die Erinnerung. Mit einem
Heiligenbilde auf dem Hochaltar wäre das anders; das hätten sie Jahr
um Jahr und in allen Lebenslagen vor Augen, das täten sie wohl zum
Herrgott selber machen.
Auf dem Chore ist in dieser Nacht Unheil gewesen. Der Pfarrer stimmt schon das
ambrosianische Loblied an, ich sitze an der Orgel und ziehe zur hohen
Festfreude alle sechs Stimmzüge auf - da platzt jählings der
Blasebalg und die Orgel stöhnt auf und faucht und gibt keinen einzigen
klingenden Ton. Meiner Tage bin ich nicht in solcher Verlegenheit gewesen als
in dieser Stunde. Ich bin der Schulmeister, der Choraufseher, ich muss Musik
machen; und die Musik ist ja eigentlich das Fest und ohne Musik gibt es in der
Kirche gar keine Christnacht. Aller Leut' Herzen hüpfen, aller Leut' Ohren
spitzen sich der Musik entgegen, da schürft mir der Teufel jetzt den
Blasebalg auf. Ich habe meinen Kopf in die Hände genommen, hätte ihn
am liebsten zum Fenster hinausgeworfen. Vergebens hüpfen meine Finger alle
Zehn über die Tasten hin; taubstumm ist das ganze Zeug und wie maustot.
Der Paul Holzer, sein Weib und die Adelheid von der Schwarzhütte, die auf
dem Chore neben mir sitzen, merken wohl meine Pein; aber sie rücken nur so
her und hin und hüsteln und räuspern sich und heben an in hellen
Stimmen zu singen: "Herrgott, dich loben wir all!"
Das ist mir Öl ins Herz gewesen.
Aber das Lied wird bald aus sein und danach kommt das Hochamt und da muss
Musik, Chormusik sein um alle Welt. Holpert der alte Rüpel die Treppe
herauf: "Schulmeister! Will schon heut die Orgel schweigen, so nimm die
Geigen!" "O Gott, Rüpel, die ist zu Holdenschlag beim
Leimen!" "Und kunnt ich auch die Geigen nicht zuwege bringen, o
tät ich bei meiner Treu die Kirchenlieder frei auf der Zither
singen!"
Für diese Wort habe ich den Alten so stürmisch umarmt, dass er bis
ins Herz hinein erschrocken ist. Ich eile und hole die Zither; und bei dem
Hochamte klingt auf dem Chor ein Saitenspiel, wie es in dieser und etwa auch in
einer andern Kirche niemalen so gehört worden ist. Die Leute horchen, der
Pfarrer selber wendet sich ein wenig und tut einen kurzen Blick gegen mich
herauf.
Und so ist mitten in der langen Winternacht zu Winkelsteg das Christfest
gefeiert worden. Leise zittern und wiegen die Saitentöne; sie singen dem
Neugebornen Jesukindlein das Wiegenlied und dem Menschen den Frieden. Und sie
schrillen und wecken das schlafende Kind, ehe der falsche Herodes kommt; und
sie trillern ein Wanderliedchen für die Flucht nach Ägypten.
Ich spiele den Messgesang, spiele die Lieder, wie sie meine Mutter gesungen und
mein Nährvater, der gute Schirmmacher, und im Hause des Freiherrn die
Jungfrau . . . .
Und letztlich weiß ich selber nicht mehr, was ich kindischer Mann der
Gemeinde und dem heiligen Kind hab vorgespielt in dieser Christnacht.
Ich werde den Winkelstegern noch so verrückt wie der Reim-Rüpel.
Nach dem Mitternachtsgottesdienst hat der Pfarrer durch mich die Ärmsten
der Gemeinde, die Alten, die Bestraften, die Verlassenen zu sich in den
Pfarrhof rufen lassen.
Je! Da ist es noch heller wie in der Kirche! Da ist mitten in der Stube ein
Baum aufgewachsen und der blüht in Flammenknospen an allen Ästen und
Zweigen.
Da gucken die alten Männlein und Weiblein gottswunderlich drein und
kichern und reiben sich die Augen über den närrischen Traum. Dass auf
einem Baum des Waldes eitel Kerzenlichter wachsen, das haben sie alle ihre Tage
noch nicht gesehen.
Jenes Wundervöglein von den tausend Jahren, sagt der Pfarrer, sei wieder
durch den Wald geflogen, habe ein Samenkorn in den Boden gelegt und dem sei
dieses Bäumchen mit den Flammenblüten entsprossen. Und das sei der
dritte Baum des Lebens. Der erst sei gewesen der Baum der Erkenntnis im
Paradiese; der zweite sei gewesen der Baum der Aufopferung auf Golgatha; und
dieser dritte Baum der Baum der Menschenliebe. Der uns das Golgatha der Erde
wieder zum Paradiese gestalte. Im brennenden Dornbusch habe Gott vormal einst
die Gebote verkündet und in diesem brennenden Busche wiederholte er es
heute: Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst!
Hierauf hat der Pfarrer die Kleidung und Nahrung verteilt, wie die Gaben
bestimmt gewesen, und die Worte gesagt: "Nicht mir danket, das Christkind
hat's gebracht!" "Du mein, du mein!" rufen die Leutchen zu
einander, "jetzt steigt uns das Christkind schon gar in den Wald herein!
Ja, weil wir halt eine Kirche haben und so viel einen guten Herrn
Pfarrer!"
Der Rüpel, auch einer der Beschenkten, ist allein kindischer wie die
andern all mitsammen. Er eilt um den Baum herum, als täte er das
Christkind suchen im Gezweige.
"Aber mein!" schreit er endlich, "die Sonn darf nicht bös
auf mich werden, ich weiß kein Licht auf der Erden, weiß keins zu
nennen, das so hell tät brennen wie dieser Wipfel mit seinem Gipfel! Seid
fein still und lauscht! Hört ihr's, wie's in den Zweigen rauscht? Wie
Spatzen fliegen die Englein und bauen ein Nest fürs Christkind zum
heiligen Fest. Der weiße dort der kleine - Flügel hat er auch noch
keine - der wär jetzt schier herabgefallen. Geh, lass dir ein paar
Steigeisen teilen vom Schmied, ich will sie schon zahlen. Schau, ich hab heut
ein warm Jöpplein kriegt und in jedem Säckel ein Taler liegt. Und
kommet, ihr Engel, nur auch bald zu allen andern Bäumen in unserm Wald,
auf dass ihr tätet anzünden die Lichterkronen zu tausend
Millionen!"
Keinen Löffel voll hat der alte Rüpel gegessen, als die andern beim
Grassteiger warme Suppe genießen. Und als Stroh in die Stube getragen und
ein Lager bereitet ist worden, dass die Leutchen nicht in der Nacht zu ihren
fernen Hütten wandern müssen, da ist der Rüpel hinausgegangen
unter den freien Himmel und hat die Sterne gezählt und jedem einen Namen
gegeben. Und der aufgehende Morgenstern hat den Namen "Vater Paul"
erhalten.
Peter Rosegger, 1843 -
1918 |
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Peter
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