Die Legende von dem Zaunkönig und der
Zaunkönigin
Hedwig Dransfeld
"Großmutter, wirst du uns heute erzählen, wie Zaunkönig
Weihnachten feiert?"
Die Kinder rückten näher heran, und ihre fröhlichen Augen
glänzten erwartungsvoll. Aber Großmutter nickte nicht sofort
Gewährung, sondern ließ zuerst ihren Strickstrumpf in den
Schoß sinken und wehrte mit beiden Händen die Ungestümen von
sich ab.
"An den Tisch, ihr Kinder. Aber fein ruhig und ordentlich! Paulchen, du
willst wohl die Lampe umwerfen? - Und wie steht es mit den Schulsachen, Karl
und Emma?"
Karl lachte. Ja, was dachte Großmutter denn nur? Hätten die Kinder
wohl gewagt, den Oberstock zu betreten, welchen sie im elterlichen Hause
bewohnte, wenn nicht alles klipp und klar gewesen wäre? Die Kinder liebten
die Großmutter nicht nur, sie waren auch ein klein wenig bange vor ihr,
wenn das Gewissen nicht rein war. Karl wurde der wildeste Junge in der ganzen
Stadt genannt; Emma konnte schon recht schnippisch und ungehorsam sein, und der
kleine Paul heulte zuweilen, dass die Fensterscheiben dröhnten. Aber bei
der Großmutter waren alle Musterkinder. Nein, die hätten sie nicht
durch ein unartiges Wörtchen betrüben können, wahrhaftig nicht!
"Also die Schularbeit!" mahnte Großmutter.
"Mutter hat alles nachgesehen", berichtete Emma.
"Und: Brav! hat sie gesagt", fügte Karl hinzu.
Großmutter war zufrieden. Sie erhob sich, holte aus einem Eckschrank drei
Äpfel und legte sie in die Ofenröhre. Paulchen, das kleinste
kugelrunde Paulchen, verfolgte ihr Tun mit liebevollen Blicken, und dann
seufzte es sorgenvoll: "Wer wohl den dicksten kriegt?" denn es war
ein leckerhaftes Bürschlein, und sein erster und letzter Wunsch lautet:
"Etwas, das gut schmeckt, und viel, sehr viel davon!
"Und nun die Geschichte von Zaunkönigs Weihnachten! Du hast sie uns
versprochen, Großmutter", erinnerte Karl.
"Wer von euch hat denn schon einen Zaunkönig gesehen?" fragte
Großmutter.
"Ich, ich", riefen die Kinder durcheinander. "Ein allerliebstes
Vögelchen ist es - im braungrauen Federkleidchen, - beinahe wie ein Spatz,
nur kleiner und flinker und viel zierlicher."
"Ja es ist ein allerliebstes Tierchen, und ihr habt es euch gut
angesehen", lobte die Großmutter. "So klein ist es, dass unser
Paul es mit seinem Fäustchen zudecken könnte, aber immer zufrieden,
immer guten Mutes. Wenn der eiskalte Nordwind über die winterlichen Fluren
streicht, dann sitzt es auf einem dürren Zweiglein so ruhig und
gemütlich, wie wir hinter dem warmen Ofen. Vor lauter Freude wippt es mit
dem aufrecht stehenden Schwänzlein, macht nach allen Seiten sehr
höfliche Verbeugungen und zwitschert gar hell in die Welt hinein:
Grüß Gott, meine Herren! Grüß Gott, meine Damen!
Schönes Wetter heute, schönes Wetter! Freilich etwas kühl! Aber
doch sehr angenehm, sehr angenehm!" Und die andern Vöglein, die im
Frühling und Sommer überall ihre Freikonzerte geben, hören
erstaunt zu, und dann spitzen sie ihre Schnäbelein und möchten
ebenfalls mit heller Stimme einfallen.
Aber o weh, es geht nicht, die sonst so liebreiche Kehle ist wie eingerostet.
Sie sind ja nur Sommermusikanten; doch der Zaunkönig, der winzige,
unscheinbare Zaunkönig, hat etwas vorab. Der singt im Winter schier noch
schöner als im Sommer."
"Warum, warum, Großmutter?" riefen die Kinder erwartungsvoll.
Großmutter lächelte geheimnisvoll. "Das hängt mit
Zaunkönigs Weihnachten zusammen, und gerade davon wollte ich euch
erzählen. Es ist eine ganz sonderbare Geschichte, aus der wir
Menschenkinder auch etwas lernen können."
Großmutter setzte sich im Sessel zurecht, und die Kinder rückten
ganz dicht an sie heran, um vor allem kein Wörtchen zu verlieren. O wie
herrlich war es doch in Großmutters Stübchen! Im Ofen knisterte das
Feuer, und draußen strich der eiskalte Nordwind um das Haus. Vom Ofen
wehte der Duft der bratenden Äpfel herüber, und der erfinderische
Karl hatte zudem Tannenzweiglein ins Feuer gelegt. Er behauptet, das gäbe
"Weihnachtsgeruch", und der darf doch nicht fehlen, wenn kurz vor
diesem hohen Feste Großmutter eine Weihnachtsgeschichte erzählt.
Und Großmutter begann:
"Nicht immer war der Zaunkönig so geachtet und ein so lustiges
Vöglein wie heutzutage; es gab eine Zeit, da schauten ihn die vornehmeren
Vögel nur über die Schulter an und wollten ihn in ihrer Gesellschaft
durchaus nicht zulassen. "Lieber Himmel", sagte Frau Amsel, "ich
bin ja auch nicht gerade für Farbenpracht, sondern trage jahraus, jahrein
mein einfaches, schwarzes Kleid, aber ich habe doch wenigstens Stimme. Etwas
muss der Vogel haben, das ihn schmückt."
"Ganz meine Meinung, Frau Gevatterin", schmetterte der Stieglitz.
"Mit meiner Stimme kann ich nun gerade nicht prahlen, aber dafür
trage ich den schönsten Rock auf zehn Meilen in der Runde. - Und der
Zaunkönig hat nichts, rein gar nichts, - nicht Stimme, kein schönes
Kleid, an dem hat unser lieber Herrgott im Himmel schwerlich Freude."
Das war hart geurteilt, und Zaunkönig und Zaunkönigin empfanden es
bitter. Denn sie waren recht fromme Vögelchen, die morgens und abends ihr
Gotteslob piepten, so gut es eben gehen mochte. So schön wie heute klang
ihr Lied damals freilich noch nicht.
Nun begab es sich in einer schönen, klaren Winternacht, dass die
Zaunkönigin, die mit ihrem Zaunkönig einen armseligen Stall bewohnte,
von einem seltsamen Geräusch aufgeweckt wurde. Als sie nun zwinkernd die
Augen öffnete, erschrak sie heftig vor dem herrlichen, rosaroten Glanz,
der den Stall erfüllte. Und mitten in dem Glanze stand ein wunderbares
Wesen in lang herabwallendem weißen Kleide; auf seiner hohen Stirne trug
es eine Krone, die beinahe noch prächtiger war als diejenige des
Königs Herodes, welcher damals in Zaunkönigs Vaterland auf dem Throne
saß. Die Zaunkönigin zitterte vor Freude und Schrecken; denn das
wunderbare Wesen musste ein Engel sein, ein wahrhaftiger Engel, der gerade vom
Himmel herabgekommen war. Er schritt nicht über die Erde wie wir
Menschenkinder, sondern schwebte durch die Luft mit lindem Flügelschlag.
Und fliegen können doch sonst nur die Vögelein.
Lieber Gott, was hat ein Engel in solch einem armseligen Stalle zu suchen? Die
Zaunkönigin wusste sich nicht mehr zu helfen. Sie stieß den Gemahl
mit den Flüglein an und flüsterte: "Wache auf, Zaun, wache auf!
Jetzt ist nicht mehr Zeit zum Schlafen, wunderbare Dinge tragen sich zu."
König Zaun aber brummte gewaltig über die Störung; denn es war
etwas faul. Jedoch die Königin ließ nicht nach. Und als er nun die
Augen öffnete, lieber Himmel, da piepte er beinahe vor Schrecken und
Überraschung. So etwas war auch noch niemals da gewesen, solange es
Zaunkönige gibt.
Der Engel hatte sich in den Staub nieder geworfen, und mit ausgebreiteten Armen
betete er: "O Liebe, o Liebe! Hier also ist der gnadenvolle Ort, an dem
der König des Himmels und der Erde geboren werden soll. Nur noch wenige
Tage und das größte Wunder wird hier geschehen: Gott selbst betritt
die Welt als kleines, armseliges Menschenkindlein. Und in diesem Stalle will er
geboren werden. Schon sind sie auf dem Wege hierher, der reine, heilige
Nährvater und die süße Mutter, die wunderbare Jungfrau von
Nazareth. Und hier ist der Ort, den mein Herr und König durch seine
Gegenwart heiligen will. O du großer Gott, o du süßes
Christkindlein, o du armseliger Stall, in dem es geboren wird!"
So betete der Engel. Und nicht lange währte es, da kamen noch viele andere
Himmelsbewohner hereingeschwebt, warfen sich in den Staub und küssten
inbrünstig den heiligen Boden, der zuerst das Gotteskindlein tragen
durfte. Und dann sangen sie mit lieblicher Stimme: "O du großer
Gott, o du süßes Christkindlein, o du armseliger Stall, in dem es
geboren wird!" Das klang noch hundertmal schöner, als wenn Nachtigall
und Amsel im Walde ein Freikonzert geben.
Die beiden Zaunkönige saßen noch immer da mit vor Erstaunen offenem
Schnäbelein, als die Engel schon längst den Stall wieder verlassen
hatten. Endlich ermannten sie sich.
"Zaun", sagte die Königin, "Zaun, welch wunderbare Sachen
mussten wir vernehmen! Mir schwindelt noch der Kopf. Der Gott des Himmels will
ein Menschenkindlein werden und zwar in diesem Stall, - in unserem Stall, Zaun.
O Gott, halb tot möchte ich mich schämen, denn wie sieht der Stall
aus! Spinngewebe in allen Ecken und darin hässliche langbeinige Spinnen!
Staub und Wust, wohin man sieht! Auf dem Boden Maden und
Tausendfüßler und rauborstige Käfer, und dort in der Krippe -
sieh nur, Zaun - eine schreckliche Raupe, so lange wie mein Bein und viel, viel
dicker. O Zaun, wenn die dem süßen Kinde übers Händlein
kröche, und es entsetzte sich vor dem hässlichen Tier und finge wohl
gar zu weinen an! Ich könnte mich niemals wieder vor den Menschen sehen
lassen, wenn so etwas in unserem Stalle geschehen wäre."
"Aber wie sollen wir es hindern?" meinte König Zaun, der jetzt
auch seine Sprache wieder gefunden hatte.
"Frage nicht so einfältig", verwies die Königin.
"Freilich, ein schönes Stück Arbeit wird es kosten, aber desto
fleißiger müssen wir und regen, denn es ist unser Stall, in dem das
Gotteskindlein zur Welt kommt."
So sagte die Königin und trippelte dabei von einem Beinchen auf das
andere. König Zaun freilich war mit dem Plan noch nicht so recht
einverstanden. "Wir beiden Zwerge sollen den ganzen Stall fegen?"
brummte er. "Das ist doch eigentlich Sache der Menschen, denn zu ihnen
kommt das Gotteskindlein."
"Auch zu uns kommt es", eiferte die Königin, denn es hat uns
alle erschaffen und sorgt noch jeden Tag für uns. O Zaun, dass du so wenig
für das Himmelskindlein tun willst! Die Menschen wissen vielleicht nicht
einmal, dass es kommt. Wir aber wissen es, und Schande über uns, wenn wir
seine Wohnung nicht bereiten."
Nun konnte Zaun nicht mehr widersprechen, und noch in derselben Nacht begannen
die beiden Vöglein, den Stall zu reinigen. Hui, war das ein Leben und eine
Bewegung! Der König flatterte umher und schlug mit seinen Flügeln den
Staub von den Wänden, fegte die Spinngewebe fort und jagte hinter den
langbeinigen Spinnen her. Hui, wie die aber Beine machen konnten! Und in die
tiefsten Winkel und Ritzen verkrochen sie sich, ebenso die abscheulichen
Tausendfüssler und die rauborstigen Käfer. Aber es half ihnen nichts.
Der König spürte alles auf, was zu dem schmutzigen Gelichter
gehörte, und dann hieß es "Hinaus damit!" Es durfte keine
Gnade geübt werden, wenn der Stall zum Empfange des Gotteskindes recht
sauber und freundlich aussehen sollte.
Indessen reinigte die Königin die Krippe und trug duftiges Heu und frische
Blättchen hinein, wobei sie ihrem Gemahl erklärte: "Weil wir
keine Wiege haben, wird die heilige Mutter das Kindlein wohl in diese Krippe
betten müssen."
"Das Gotteskindlein in einer Krippe?" verwunderte sich Zaun.
"Ich sage es dir, und wir wollen sehen, wer Recht behält."
So unterhielten sich die Vögelchen, wobei sie das Arbeiten nicht
vergaßen, und nach einigen Tagen war der Stall so sauber und sah so
freundlich aus, - nun, wie eben ein armer Stall aussehen kann. Denn zum Palaste
konnten ihn die fleißigen Vögel nicht machen.
Und wieder kam eine wunderschöne, klare Winternacht. Die Sterne
glänzten so feierlich am dunkelblauen Himmel, und durch die Lüfte
ging ein Singen und Klingen, als ob die Erde lebendig geworden sei und sich
freue auf die Ankunft des Erlösers. Und wieder wurden die Zaunkönige
durch ein sonderbares Geräusch geweckt. Und als sie die Augen aufschlugen,
- o Himmel! - da lag zu ihren Füßen ein süßes Kindlein,
und vor ihm knieten eine stille, wunderbare Frau und ein ernster Mann, dem das
Glück aus den Augen leuchtete. Und wirklich - die Zaunkönigin hatte
recht behalten, - das Kindlein lag auf dem duftigen Heu der Krippe. Und durch
alle Ritzen und Fugen schauten Engel herein und sangen gar
wundersüße Lieder, dass es den Zaunkönig froh und frei ums Herz
wurde. Sie waren ganz dicht zur Krippe geflogen, und die heilige Jungfrau
verscheuchte sie nicht. Und nun öffnete das Christkindlein die Augen und
sah die Vögel an mit dankbaren Blicken. Da fühlten diese, wie sich in
ihren Kehlen etwas löste, und sie öffneten die Schnäbelein und
fielen mit schmetternder Stimme ein in den Gesang der himmlischen Heerscharen.
Das war Zaunkönigs Weihnachten. Und von Stund' an konnten sie singen und
jubilieren mitten in der ärgsten Winterzeit, wenn alle andern Vögel
stumm sind, weil sie die Wohnung des Gotteskind bereitet hatten."
Großmutter schwieg. Noch eine ganze Weile saßen die Kinder
mäuschenstill da, dann aber kamen gleich ein Dutzend Fragen auf einmal.
Großmutter wusste auf jede eine Antwort, und als sie Karl mit dem Finger
auf die Jacke tupfte, da, wo sein Herz saß, und sagte: "Da ist auch
ein Kripplein, ihr haltet es doch alle drei wie die Zaunkönige: Heraus mit
allem Hässlichen!" nickten die drei Kinder ernsthaft, sie merkten,
was Großmutter sagen wollte.
Hedwig Dransfeld, 1871 -
1925 |
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Peter
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