Das Geheimnis der Mischung
Ludwig Ganghofer
Während draußen vor den Fenstern die Menschen in schwarzem
Gedränge sich vorüberschoben, als wäre die ganze Stadt in
Bewegung und Aufruhr, lagerte die Stimmung schläfriger Langweile innerhalb
der grell erleuchteten Mauern eines geräumigen Kaffeehauses. Nur zwei von
den wenigen Gästen schienen diese Stimmung nicht zu teilen. Sie
saßen in einer Ecke des weiten Saales an einem kleinen Tisch. Der eine
von ihnen, der in seinem Äußern den vermöglichen Mann verriet,
trug schon das Grau des Alters über der hohen Stirne. Ruhiger Ernst war
der Ausdruck seines glattrasierten Gesichtes und seine stahlblauen Augen
hafteten mit gespannt forschenden Blicken auf den heftig erregten, wie in
Fieberröte brennenden Zügen seines Gegenübers. Das war ein Mann
von etwa fünfunddreißig Jahren, eine stramme, kräftig
entwickelte Gestalt. Ein weiches Gemüt und die feste Entschlossenheit des
erprobten Arbeiters sprachen in seltsamer Mischung aus seinem Gesichte, das von
braunen, struppigen Haaren umrahmt war. So saßen sich die beiden wortlos
gegenüber.
Endlich brach der Ältere das Schweigen: "Nun, Herr Schaller? Wissen
Sie denn gar keine Antwort zu finden?" Wie erschrocken fuhr der Angeredete
mit dem Kopf in die Höhe. "Nein, nein und nein! Ich tu's nicht - und
wenn sie mir eine Millionen anbieten - ich tu's nicht! Das war mein erstes
Wort, und das ist auch mein letztes!" "So seien sie doch
vernünftig, Schaller, und - sprechen sie ein wenig leiser. Ich streite ja
nicht gegen Ihre Gewissenhaftigkeit - im Gegenteil, sie gefällt mir - ;
aber praktisch sein, ist auch eine schöne Sache. Und übrigens, ich
will ja nicht verlangen, dass Sie mir das Geheimnis geradewegs verkaufen
sollen. Gott bewahre! Mir ist es nicht um das zu tun, was Sie seit acht Tagen
wissen, sondern um Sie selbst, lieber Schaller. Sie sind ein kluger Kopf und
ein besonders tüchtiger Arbeiter. Solche Leute kann ich brauchen in meiner
Fabrik; sie sind mir Gold wert. Seien Sie vernünftig, kommen Sie zu mir,
ich biete Ihnen die Inspektorstelle in meiner Fabrik an. Ich gebe Ihnen das
Doppelte von dem, was Sie bei Seydelmann & Komp. beziehen, und mache mit
Ihnen einen zehnjährigen Vertrag, mit jährlich steigendem
Gehalt."
Auf dem Gesichte den jungen Mannes wechselte Röte und Blässe. Er
musste jedes dieser langsam und eindringlich gesprochene Worte vernommen haben
und dennoch hingen seine Blicke wie geistesverloren an den drei elfenbeinernen
Kugeln, die auf dem nächsten Billardtisch inmitten des grünen Tuches
lagen. Und da kam es ihm vor, als wären die beiden weißen Kugeln die
zarten, lieben Gesichter seiner zwei kleinen Mädchen, und die rote Kugel
erschien ihm wie das gesunde, pausbäckige Gesicht seines herzliebsten
Buben. Und diese drei Gesichter schauten ihn an mit großen,
ängstlichen Augen und diese Augen schienen zu sprechen: "Vater, um
Gottes willen, Vater, lass dir nur ja nichts einreden von dem schlechten Kerl!
Schau, was hättest denn davon, wenn du einen Haufen Geld im Kasten liegen
hättest und könntest deinen Kindern und der Mutter nimmer grad in die
Augen schauen! Lass dir nichts einreden Vater!" Mit einem jähen Ruck
sprang der junge Mann von seinem Stuhl empor, streckte das zorngerötete
Gesicht mit den blinzelnden Augen weit über den Tisch und stammelte mit
heiserer Stimme: "Und das Weitere, meinen Sie, das wird sich dann schon
finden? Wenn Sie mich erst mal auf zehn Jahre in Ihren Händen hätten,
dann könnten Sie mich schon so lange kneten und bearbeiten, dass mir
schließlich nichts andres übrig bliebe, als ein Schuft zu werden und
Ihnen das Fabrikationsgeheimnis meines jetzigen Herrn zu verraten."
Zornig packte er seinen Hut, stülpte ihn über die gesträubten
Haare, stapfte mit langen Schritten davon und schoss zur Türe hinaus. Die
Augen auf das beschneite Pflaster gesenkt, so stürmte er heimwärts.
Bilder der Erinnerung huschten an seiner Seele vorüber. Er dachte an die
Lehrlingszeit zurück, die er in einem chemischen Laboratorium durchgemacht
hatte, und an die ersten Gesellenjahre, die er weit von der Heimat in einem
großen Glaswerk verbrachte. Dann war er heimgekommen und hatte in der
Seydelmannschen Majolikafabrik eine sichere Stelle gefunden. Der gute Herrgott
hatte ihm ein gutes Weib und gesunde lustige Kinder beschert - ja, was wollte
er denn noch mehr? Ein wenig knapp ging es freilich her zu Hause; aber wenn da
nun auch ein paar kleine Rückstände bei den unentbehrlichen
Handwerksleuten nicht zu vermeiden waren - er hatte ja nur eine kurze Woche
noch auf den Neujahrstag zu warten, an welchem Herr Seydelmann für den
Glückwunsch jedes Beamten und Arbeiters mit einem ganzen Monatsgehalte zu
danken pflegte. Und diesen Herrn, der ihm erst vor acht Tagen den
größten Beweis seines Vertrauens gegeben hatte, den hätte er
verraten und verkaufen sollen? Bei diesem Gedanken warf Schaller die geballten
Fäuste so zornig in die Höhe, dass ein altes Mütterlein, welches
ihm gerade entgegenkam, sich erschrocken vom Fußsteig auf die offene
Straße flüchtete.
Bald erreichte er sein Heim, weit draußen in einer stillen Vorstadtgasse.
Mit hurtigen Sprüngen eilte er die vier engen, steilen Treppen hinauf.
Seine schmucke blonde Frau empfing ihn. "Grüß dich Gott,
Robert!" sagte sie und schaute ihn von der Seite an, denn sie las es ihm
gleich vom Gesicht, dass irgend etwas nicht in Ordnung war. Diese Wahrnehmung
aber verschwieg sie ihm. Sie fasste seinen Arm und zog ihn gegen die Stube.
"Komm nur, kannst mir gleich die Kerzen aufstecken helfen. Die Kinder
wollen schier nimmer warten. Sie schreien wie die Wilden, und der armen
Großmutter haben sie schon alle Falten vom Rock heruntergerissen."
Sie traten in das Zimmer, welches, von einer Hängelampe erhellt, trotz
seiner dürftigen Ausstattung einen behaglichen, freundlichen Eindruck
machte. Der Tisch war schon zum Abendessen gedeckt und seitwärts, auf
einem niederen Kasten, stand der kleine, nicht allzu schwer behängte
Christbaum, unter welchem die kärglichen Weihnachtsgaben für die
Großmutter und die Kinder ausgebreitet waren. Sie redeten eine Weile
über diese Sachen und Sächelchen hin und her; dann begannen sie die
Kerzen aufzustecken, während aus dem anstoßenden Zimmer der
übermütige Jubel der drei "Wilden" sich hören
ließ.
"Robert, mit kommt's vor, als hättest heut einen Verdruss
gehabt?" fragte nach einer Weile die junge Frau. "Gott bewahr!"
brummte er und schüttelte den Kopf. Sie fragte nicht weiter, denn sie
kannte ihn - und da kam's denn nach kurzen Minuten von selbst aus ihm heraus,
diese Kaffeehausgeschichte. "Heute Nachmittag, gerad wie ich aus der
Fabrik hab' fort wollen, hat mir einer einen Brief geschickt, ich soll zu ihm
ins Kaffeehaus kommen, weil er mit eine wichtige Mitteilung zu machen
hätt'."
"Und bist hingegangen?"
Natürlich war er hingegangen und hatte dort jenen vornehmen Herrn
gefunden, der sich ihm als Besitzer einer großen Porzellanfabrik genannt
hatte. Da war es nun bald aufgekommen, dass Schaller eine wichtige Mitteilung
nicht empfangen, sondern geben, verkaufen sollte. Die Fabrik, in der er
arbeitete, lieferte neben anderen einschlägigen Waren eine gewisse
Majolikasorte, welche den reißenden Absatz, den sie gefunden, der
tadellosen Schönheit und mit unvergleichlichen Schmelz ihrer Farben
verdankte. Viele Fabriken hatten es versucht, den gangbaren Artikel
nachzumachen; aber wenn auch die zur Erzeugung dieser Schmelzfarben
nötigen Stoffe bekannt waren, so vermochte doch keiner der Nachahmer die
richtige Mischung zu treffen. Diese war das wohlbewahrte Geheimnis der
Seydelmannschen Fabrik geblieben; denn außer dem Besitzer der Fabrik
kannte diese Geheimnis nur noch ein einziger alter Arbeiter, der in einem
verschlossenen Raume die Mischung vornahm. Dieser Arbeiter war nun vor acht
Tagen einer jähen Krankheit erlegen und Robert Schaller war an seine
Stelle getreten.
"Und wie mir damals am vorigen Samstag der Herr alles gesagt hat, was ich
zu meiner neuen Arbeit hab' wissen müssen, hat er kein Versprechen, kein
Wort und keinen Schwur von mir verlangt. Sie sind ein braver, tüchtiger
Mensch, ich habe Vertrauen zu Ihnen und ich weiß, dass sie meine gute
Meinung nicht täuschen werden. Das war alles, was er gesagt hat. Kaum acht
Tage sind's her, seit ich von der Schmelzerei ins Laboratorium gekommen bin;
und jetzt hat sich heut schon der Kerl da an mich angeheftet und hat gemeint,
er braucht' nur seine Brieftasch' aufzumachen, dass ich meine Ehr' hineinfallen
lass' zwischen seine Hundertguldenzettel.
Aufatmend schwieg er. Seine junge Frau erwiderte kein Wort. Sie stand auf einem
Stuhl und klebte die bunten Kerzlein auf die obersten Zweige des Baumes. Dabei
zitterten ihre Hände und nach einer stummen Weile fuhr es ihr
plötzlich heraus: "Robert! Wenn du zu einer solchen Schlechtigkeit
hätt'st ja sagen können, ich glaub`, da wär's aus gewesen mit
meiner Lieb." Er nickte nur, als hätte sie etwas
Selbstverständliches gesagt.
Nun sprang sie vom Stuhl und die Kerzen wurden angezündet. Robert
öffnete die verschlossene Türe, der Großmutter voran
stürmten die drei "Wilden" herein und lachende, jauchzende
Freude füllte die Stube, die vor wenigen Minuten noch so ernste Worte
gehört. Als sich aber der erste Jubel der Kinder ein wenig gelegt hatte,
kam mit der Bescherung die Reihe an den Vater. Mit lächelnder
Zufriedenheit betrachtete er eine nach der andern von den zwölf
brettdicken Socken, welche die Großmutter ihm gestrickt hatte, eines nach
dem andern von den sechs rot eingestickten, sorgfältig gesäumten
Taschentüchern, die ihm seine Frau beschert hatte. Dann kam aber erst die
Hauptsache - die Vorführung der "in Freiheit dressierten
Wilden". Die siebenjährige Elise brachte ein Paar gestickte Schuhe
und deklamierte dazu eine Pantoffelhymne, als deren Dichterin sich mit
verlegenem Erröten die Großmutter bekannte:
"Lieber Vater, diese Schuh
trag in Gesundheit und Ruh;
die Kindeslieb, wo mein Herz beglückt,
hab ich drinnen hineingestickt.
Drum, wenn sie dir warm halten die Füß,
denk an deine Tochter Elis'!"
Diese Verse haperten zwar, aber sie kamen von Herzen. Dann rückte die
dreijährige Marie an. Sie konnte nur mit einem Vaterunser aufwarten. Der
fünfjährige Fritz hinwieder hatte sich statt auf die Religion auf die
Kunst verlegt. Mit seinem piepsenden Stimmlein sang der kleine Käsehoch
ein Lied herunter.
"Kinder! Kinder! her zu mir!" schrie der junge Vater. Mit beiden
Armen fasste er die drei Knirpse zusammen, und während er sie so eng an
seine Brust drückte, dass sie lange Gesichter schnitten, schaute er,
über ihre Blondköpfe hinweg, ins Leere und stammelte: "Der - der
soll mir kommen - und soll mir so eine Freud verderben wollen - so eine
Freud!" Da klang von draußen ein schrillender Glockenton in die
Stube. Frau Schaller schaute ihren Mann erschrocken an - weshalb sie erschrak,
das wusste sie selbst nicht - ; dann ging sie, um die Tür zu öffnen.
Zwei Dienstmänner brachten einen großen Korb und schleppten ihn in
die Stube. Von wem er wäre, wussten sie nicht; ein vornehmer Herr
hätte sie geschickt und ließe ausrichten, dass er selbst
nachkäme. Mit zitternden Händen schlug Frau Schaller den Deckel des
Korbes in die Höhe; und was da zum Vorschein kam, entlockte den drei
Kindermäulchen ein staunendes, jubelndes Ah! Spielsachen, Backwerk,
Kleiderstoffe, das wollte fast kein Ende nehmen; und ganz zu unterst wurde ein
kleines, zierlich beschlagenes Kästchen ausgegraben, das sich bis zum Rand
angefüllt zeigte mit blitzblanken Silbergulden. Erblasst bis in die
Lippen, schaute Frau Schaller zu ihrem Mann auf; der aber streckte schon, das
Gesicht von dunkler Zornröte übergossen, die beiden Hände,
packte das Kästchen und warf es in den Korb zurück, dass die
Münzen klirrend in die Höhe sprangen. "Fort - fort mit dem Geld,
sag' ich - und die Hände von dem Zeug, Kinder, die Händ' weg!"
schrie er mit bebender Stimme. "Der Lump - weil er's auf geradem Weg nicht
fertiggebracht hat - jetzt meint er, er kann mich von hinten packen! Mitnehmen
sollen sie's wieder - auf der Stell!"
Er eilte in den Flur hinaus, um die beiden Dienstmänner
zurückzurufen. Draußen aber stand er wie versteinert und brachte
kein Wort über die Lippen. Unter der offenen Wohnungstüre stand sein
Chef, Herr Seydelmann, eine stattliche Erscheinung von
bürgerlich-behäbigem Aussehen. "Guten Abend, lieber
Schaller!" "Sie - Herr Seydelmann - Sie kommen - zu mir?"
"Wie Sie sehen. Und - wissen Sie auch, was ich möchte?"
lächelte der alte Herr. "Ich möchte Sie fragen, wie Ihnen heute
Nachmittag der Kaffee geschmeckt hat."
Dem jungen Mann fielen die Lippen auseinander und mit zitterndem Arme tastete
er nach der nahen Mauer. Wie ein grauer Schleier kam's ihm vor die Augen, er
sah nichts mehr, er fühlte nur, wie ihm sein Chef die Hand auf die
Schulter legte, und hörte ihn mit leiser, ernster Stimme sagen: "Sie
haben ein Recht, lieber Schaller, diese Geschichte von heute Nachmittag eine
Beleidigung zu nennen; und ich komme auch, um Ihnen Abbitte zu leisten. Ich
hatte Vertrauen zu Ihnen - als Mensch. Aber ich bin auch Geschäftsmann und
als solcher muss ich mich von der Richtigkeit meiner Meinung überzeugen.
Der Herr, welcher Sie heute in das Kaffeehaus gerufen hat, ist mein Schwager
gewesen. Und weil er in meinem Auftrag handelte, müssen Sie auch das
Anerbieten, das er Ihnen machte, als von mir gemacht betrachten. Von Neujahr an
verdoppele ich Ihre Bezüge und biete Ihnen einen zehnjährigen Vertrag
mit steigendem Gehalte. Wenn Sie dann übermorgen wieder die Fabrik
besuchen, darf und will ich Ihnen auch das Geheimnis der richtigen Mischung
anvertrauen. Und jetzt bekommen Sie - jetzt will ich Ihre Frau und Ihre Kinder
kennen lernen!"
Da löste sich der Bann, der über den jungen Mann lag, und mit einem
von Tränen erstickten Aufschrei stürzte er seinem Chef voran in die
Stube. Ein süßer, harziger Duft quoll ihm entgegen. Ein Zweig des
Christbaums, auf welchem noch immer die Kerzen brannten, hatten Feuer gefangen.
Ludwig Ganghofer, 1855 -
1920 |
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