Marthe und ihre Uhr
Theodor Storm
Während der letzten Jahre meines Schulbesuchs wohnte ich in einem kleinen
Bürgerhause der Stadt, worin aber von Vater, Mutter und vielen
Geschwistern nur eine alternde, unverheiratete Tochter zurückgeblieben
war. Die Eltern und zwei Brüder waren gestorben, die Schwestern bis auf
die jüngste, die einen Arzt am selbigen Ort geheiratet hatte, ihren
Männern in entfernte Gegenden gefolgt. So blieb denn Marthe allein in
ihrem elterlichen Hause, worin sie sich durch das Vermieten des früheren
Familienzimmers und mit Hilfe einer kleinen Rente spärlich durchs Leben
brachte. Doch kümmerte es sie wenig, dass sie nur Sonntags ihren
Mittagstisch decken konnte; denn ihre Ansprüche an das äußere
Leben waren fast keine; eine Folge der strengen und sparsamen Erziehung, die
der Vater sowohl aus Grundsatz als auch in Rücksicht seiner
beschränkten bürgerlichen Verhältnisse allen seinen Kindern
gegeben hatte. Wenn aber Marthen in ihrer Jugend nur die gewöhnliche
Schulbildung zuteil geworden war, so hatte das Nachdenken ihrer späteren
einsamen Stunden, vereinigt mit einem behänden Verstande und dem
sittlichen Ernst ihres Charakters, sie doch zu der Zeit, in der ich sie kennen
lernte, auf eine für Frauen, namentlich des Bürgerstandes,
ungewöhnlich hohe Bildungsstufe gehoben. Freilich sprach sie nicht immer
grammatisch richtig, obgleich sie viel mit Aufmerksamkeit las, am liebsten
geschichtlichen oder poetischen Inhalts: aber sie wusste sich dafür
meistens über das Gelesene ein richtiges Urteil zu bilden und, was so
wenig gelingt, selbständig das Gute vom Schlechten zu unterscheiden.
Mörikes "Maler Nolten", der damals erschien, machte großen
Eindruck auf sie, so dass sie ihn immer wieder las; erst das Ganze, dann diese
oder jene Partie, wie sie ihr eben zusagte. Die Gestalten des Dichters wurden
für sie selbstbestimmende lebende Wesen, deren Handlungen nicht mehr an
die Notwendigkeit des dichterischen Organismus gebunden waren; und sie konnte
stundenlang darüber nachsinnen, auf welche Weise das hereinbrechende
Verhängnis von so vielen geliebten Menschen dennoch hätte abgewandt
werden können.
Die Langeweile drückte Marthen in ihrer Einsamkeit nicht, wohl aber
zuweilen ein Gefühl der Zwecklosigkeit ihres Lebens nach außen hin;
sie bedurfte jemandes, für den sie hätte arbeiten und sorgen
können. Bei dem Mangel näher Befreundeter kam dieser löbliche
Trieb ihren jeweiligen Mietern zugute, und auch ich habe manche Freundlichkeit
und Aufmerksamkeit von ihrer Hand erfahren. - An Blumen hatte sie eine
große Freude: und es schien mir ein Zeichen ihres anspruchslosen Sinnes,
dass sie unter ihnen die weißen und von diesen wieder die einfachen am
liebsten hatte. Es war immer ihr erster Festtag im Jahre, wenn ihr die Kinder
der Schwester aus deren Garten die ersten Schneeglöckchen und
Märzblumen brachten; dann wurde ein kleines Porzellankörbchen aus dem
Schranke herab genommen; und die Blumen zierten unter ihrer sorgsamen Pflege
wochenlang die kleine Kammer.
Da Marthe seit dem Tode ihrer Eltern wenig Menschen um sich sah und namentlich
die langen Winterabende fast immer allein zubrachte, so lieh die regsame und
gestaltende Phantasie, die ihr ganz besonders eigen war, den Dingen um sie her
eine Art von Leben und Bewusstsein. Sie borgte Teilchen ihrer Seele aus an die
alten Möbel ihrer Kammer, und die alten Möbel erhielten so die
Fähigkeit, sich mit ihr zu unterhalten; meistens freilich war diese
Unterhaltung eine stumme, aber sie war dafür desto inniger und ohne
Missverständnis. Ihr Spinnrad, ihr braun geschnitzter Lehnstuhl waren gar
sonderbare Dinge, die oft die eigentümlichsten Grillen hatten;
vorzüglich war dies aber der Fall mit einer altmodischen Stutzuhr, die ihr
verstorbener Vater vor über fünfzig Jahren, auch damals schon als ein
uraltes Stück, auf dem Trödelmarkt zu Amsterdam gekauft hatte. Das
Ding sah freilich seltsam genug aus: zwei Meerweiber, aus Blech geschnitten und
dann übermalt, lehnten zu jeder Seite ihr langhaariges Antlitz an das
vergilbte Zifferblatt; die schuppigen Fischleiber, die von einstiger Vergoldung
zeugten, umschlossen dasselbe nach unten zu; die Weiser schienen dem Schwanze
eines Skorpions nachgebildet zu sein. Vermutlich war das Räderwerk durch
langen Gebrauch verschliffen, denn der Perpendikelschlag war hart und ungleich,
und die Gewichte schossen zuweilen mehrere Zoll mit einem Mal hinunter. - Diese
Uhr war die beredteste Gesellschaft ihrer Besitzerin, sie mischte sich aber
auch in alle Gedanken. Wenn Marthe in ein Hinbrüten über ihre
Einsamkeit verfallen wollte, dann ging der Perpendikel tick, tack! tick, Tack!
immer härter, immer eindringlicher; er ließ ihr keine Ruh', er
schlug immer mitten in ihre Gedanken hinein. Endlich musste sie aufstehen; - da
schien die Sonne so warm in die Fensterscheiben, die Nelken auf dem
Fensterbrett dufteten so süß; draußen schossen die Schwalben
singend durch den Himmel. Sie musste wieder fröhlich sein, die Welt um sie
her war gar zu freundlich.
Die Uhr hatte aber auch wirklich ihren eigenen Kopf, sie war alt geworden und
kehrte sich nicht mehr so gar viel an die neue Zeit, daher schlug sie oft
sechs, wenn sie zwölf schlagen sollte, und ein andermal, um es wieder
gutzumachen, wollte sie nicht aufhören zu schlagen, bis Marthe das
Schlaglot von der Kette nahm. Das Wunderlichste war, dass sie zuweilen gar
nicht dazu kommen konnte; dann schnurrte und schnurrte es zwischen den
Rädern, aber der Hammer wollte nicht ausholen; und das geschah mitten in
der Nacht. Marthe wurde jedes Mal wach; und mochte es im klingendsten Winter
und in der dunkelsten Nacht sein, sie stand auf und ruhte nicht, bis sie die
alte Uhr aus ihren Nöten erlöst hatte. Dann ging sie wieder zu Bette
und dachte sich allerlei, warum die Uhr sie wohl geweckt habe, und fragte sich,
ob sie in ihrem Tagewerk auch etwas vergessen, ob sie es auch mit guten
Gedanken beschlossen habe.
Nun war es Weihnachten. Den Christabend, da ein übermäßiger
Schneefall mir den Weg zur Heimat versperrte, hatte ich in einer befreundeten,
kinderreichen Familie zugebracht; der Tannenbaum hatte gebrannt, dir Kinder
waren jubelnd in die lang verschlossene Weihnachtstube gestürzt, nachher
hatten wir die unerlässlichen Karpfen gegessen und Punsch dazu getrunken;
nichts von der herkömmlichen Feierlichkeit war versäumt worden. - Am
andern Morgen trat ich zu Marthe in die Kammer, um ihr den gebräuchlichen
Glückwunsch zum Feste abzustatten. Sie saß mit untergestützten
Arm am Tische; ihre Arbeit schien längst geruht zu haben.
"Und wie haben Sie denn gestern Ihren Weihnachtsabend zugebracht?"
fragte ich.
Sie sah zu Boden und antwortete: "Zu Hause."
"Zu Hause? Und nicht bei Ihren Schwesterkindern?"
"Ach", sagte sie, "seit meine Mutter gestern vor zehn Jahren
hier in diesem Bette starb, bin ich am Weihnachtsabend nicht ausgegangen. Meine
Schwester schickte gestern wohl zu mir, und als es dunkel wurde, dachte ich
wohl daran, einmal hinzugehen; aber - die alte Uhr war auch wieder so drollig;
es war akkurat, als wenn sie immer sagte: Tu es nicht, tu es nicht! Was willst
du da? Deine Weihnachtsfeier gehört ja nicht dahin!" Und so bleib sie
denn zu Haus in dem kleinen Zimmer, wo sie als Kind gespielt, wo sie
später ihren Eltern die Augen zugedrückt hatte, und wo die alte Uhr
tickte ganz wie dazumal. Aber jetzt, nachdem sie ihren Willen bekommen und
Marthe das schon hervorgezogene Festkleid wieder in den Schrank verschlossen
hatte, tickte sie so leise, ganz leise und immer leiser, zuletzt unhörbar.
- Marthe durfte sich ungestört der Erinnerung aller Weihnachtsabende ihres
Lebens überlassen: Ihr Vater saß wieder in dem braungeschnitzten
Lehnstuhl; er trug das feine Samtkäppchen und den schwarzen Sonntagsrock;
auch blickten seine ernsten Augen heute so freundlich; denn es war
Weihnachtsabend, Weihnachtsabend vor - ach, vor sehr , sehr vielen Jahren! Ein
Weihnachtsbaum zwar brannte nicht auf dem Tisch - das war ja nur für
reiche Leute - ; aber statt dessen zwei hohe dicke Lichter; und davon wurde das
kleine Zimmer so hell, dass die Kinder ordentlich die Hand vor die Augen halten
mussten, als sie aus der dunkeln Vordiele hineintreten durften. Dann gingen sie
an den Tisch, aber nach der Weise des Hauses ohne Hast und laute
Freudenäußerungen, und betrachteten, was ihnen das Christkind
einbeschert hatte. Das waren nun freilich keine teuren Spielsachen, auch nicht
einmal wohl feile; sondern lauter nützliche und notwendige dinge, ein
kleid, ein Paar Schuhe, eine Rechentafel, ein Gesangbuch und dergleichen mehr;
aber die Kinder waren gleichwohl glücklich mit ihrer Rechentafel und ihrem
neuen Gesangbuch, und sie gingen eins um andere, dem Vater die Hand zu
küssen, der währenddessen zufrieden lächelnd in seinem Lehnstuhl
geblieben war. Die Mutter mit ihrem milden, freundlichen Gesicht unter dem eng
anliegenden Scheiteltuch band ihnen die neue Schürze vor und malte ihnen
Zahlen und Buchstaben zum Nachschreiben auf die neue Tafel. Doch sie hatte
nicht gar lange Zeit, sie musste in die Küche und Apfelkuchen backen, denn
das war für die Kinder eine Hauptbescherung am Weihnachtsabend; die
mussten notwendig gebacken werden. Da schlug der Vater das neue Gesangbuch auf
und stimmte mit seiner klaren Stimme an: "Frohlockt, lobsinget Gott";
die Kinder aber, die alle Melodien kannten, stimmten ein: "der Heiland ist
gekommen"; und so sangen sie den Gesang zu Ende, indem sie alle um des
Vaters Lehnstuhl herumstanden. Nur in den Pausen hörte man in der
Küche das Hantieren der Mutter und das Prasseln der Apfelkuchen. -
Tick, tack! ging es wieder; tick, tack! immer härter und eindringlicher.
Marthe fuhr empor; da war es fast dunkel um sie her, draußen auf dem
Schnee nur lag trüber Mondschein. Außer dem Pendelschlag der Uhr war
es totenstill im Hause. Kein Kinder sangen in der kleinen Stube, kein Feuer
prasselte in der Küche. Sie war ganz allein zurückgeblieben; die
andern waren alle fort, alle fort. - Aber was wollte die alte Uhr denn wieder?
- Ja, da warnte es auf elf - und ein anderer Weihnachtsabend tauchte in
Marthens Erinnerung auf, ach! ein ganz anderer; viele, viele Jahre später.
Der Vater und die Brüder waren tot, die Schwestern verheiratet, die
Mutter, die nun mit Marthen allein geblieben war, hatte schon längst des
Vaters Platz im braunen Lehnstuhl eingenommen und ihrer Tochter die kleinen
Wirtschaftssorgen übertragen; denn sie kränkelte seit des Vaters Tod,
ihr mildes Antlitz wurde immer blässer, und ihre freundlichen Augen
blickten immer matter; endlich musste sie auch den Tag über im Bette
bleiben. Das war schon über drei Wochen, und nun war es Weihnachtsabend.
Marthe saß an ihrem Bett und horchte auf den Atem der Schlummernden; es
war totenstill in der Kammer, nur die Uhr tickte. Da warnte es auf elf, die
Mutter schlug die Augen auf, und verlangte zu trinken. "Marthe",
sagte sie, "wenn es erst Frühling wird, und ich wieder zu
Kräften gekommen bin, dann wollen wir deine Schwester Hanne besuchen; ich
habe eben ihre Kinder im Traume gesehen; - du hast hier gar zu wenig
Vergnügen." - Die Mutter hatte ganz vergessen, dass Schwester Hannes
Kinder im Spätherbst gestorben waren; Marthe erinnerte sie auch nicht
daran, sie nickte schweigend mit dem Kopf und fasste ihre abgefallenen
Hände. Die Uhr schlug elf. -
Auch jetzt schlug sie elf, aber leise, wie aus weiter Ferne. - Da hörte
Marthe einen tiefen Atemzug; sie dachte, die Mutter wolle wieder schlafen. So
blieb sie sitzen, lautlos, regungslos, die Hand der Mutter noch immer in der
ihren; am Ende verfiel sie in einen schlummerähnlichen Zustand. Es mochte
so eine Stunde vergangen sein; da schlug die Uhr zwölf! - Das Licht war
ausgebrannt, der Mond schien hell ins Fenster; aus den Kissen sah das bleiche
Gesicht der Mutter. Marthe hielt eine kalte Hand in der ihrigen. Sie ließ
diese kalte Hand nicht los, sie saß die ganze Nacht bei der toten Mutter.
-
So saß sie jetzt bei ihren Erinnerungen in derselben Kammer, und die alte
Uhr tickte bald laut, bald leise; sie wusste von allem, sie hatte alles
miterlebt, sie erinnerte Marthe an alles, an ihre Leiden, an ihre kleinen
Freuden. -
Ob es noch so gesellig in Marthens einsamer Kammer ist? Ich weiß es
nicht; es sind viele Jahre her, seit ich in ihrem Hause wohnte, und jene kleine
Stadt liegt weit von meiner Heimat. - Was Menschen, die das Leben lieben, nicht
auszusprechen wagen, pflegte sie laut und ohne Scheu zu äußern: Ich
bin niemals krank gewesen, ich werde gewiss sehr alt werden. - Ist ihr Glaube
ein richtiger gewesen und sollten diese Blätter den Weg in ihre Kammer
finden, so möge sie sich beim Lesen auch meiner erinnern. Die alte Uhr
wird helfen, sie weiß ja von allem Bescheid.
Theodor Storm, 1817 -
1888 |
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