Der kleine Tannenbaum
Manfred Kyber
Es war einmal ein kleiner Tannenbaum im tiefen Tannenwalde, der wollte so gerne
ein Weihnachtsbaum sein. Aber das ist gar nicht so leicht, als man das meistens
in der Tannengesellschaft annimmt, denn der heilige Nikolaus ist in der
Beziehung sehr streng und erlaubt nur den Tannen als Weihnachtsbaum in Dorf und
Stadt zu spazieren, die dafür ganz ordnungsmäßig in seinem Buch
aufgeschrieben sind. Das Buch ist ganz erschrecklich groß und dick, so
wie sich das für einen guten alten Heiligen geziemt, und damit geht er im
Walde herum in den klaren kalten Winternächten und sagt es allen den
Tannen, die zum Weihnachtsfeste bestimmt sind. Und dann erschauern die Tannen,
die zur Weihnacht erwählt sind, vor Freude und neigen sich dankend und
dazu leuchtet des Heiligen Heiligenschein und das ist sehr schön und sehr
feierlich.
Und der kleine Tannenbaum im tiefen Tannenwalde, der wollte so gerne ein
Weihnachtsbaum sein.
Aber manches Jahr schon ist der heilige Nikolaus in den klaren kalten
Winternächten an dem kleinen Tannenbaum vorbeigegangen und hat wohl ernst
und geschäftig in sein erschrecklich großes Buch geguckt, aber auch
nichts und gar nichts dazu gesagt. Der arme kleine Tannenbaum war eben nicht
ordnungsmäßig vermerkt - und da ist er sehr, sehr traurig geworden
und hat ganz schrecklich geweint, so dass es ordentlich tropfte von allen
Zweigen.
Wenn jemand so weint, dass es tropft, so hört man das natürlich, und
diesmal hörte das ein kleiner Wicht, der ein grünes Moosröcklein
trug, einen grauen Bart und eine feuerrote Nase hatte und in einem dunklen
Erdloch wohnte. Das Männchen aß Haselnüsse, am liebsten hohle,
und las Bücher, am liebsten dicke, und war ein ganz boshaftes kleines
Geschöpf. Aber den Tannenbaum mochte es gerne leiden, weil es oft von ihm
ein paar grüne Nadeln geschenkt bekam für sein gläsernes
Pfeifchen, aus dem es immer blaue ringelnde Rauchwolken in die goldene Sonne
blies - und darum ist der Wicht auch gleich herausgekommen, als er den
Tannenbaum so jämmerlich weinen hörte und hat gefragt: "Warum
weinst du denn so erschrecklich, dass es tropft?"
Da hörte der kleine Tannenbaum etwas auf zu tropfen und erzählte dem
Männchen sein Herzeleid. Der Wicht wurde ganz ernst und seine
glühende Nase glühte so sehr, dass man befürchten konnte, das
Moosröcklein finge Feuer, aber es war ja nur die Begeisterung und das ist
nicht gefährlich. Der Wichtelmann war also begeistert davon, dass der
kleine Tannenbaum im tiefen Tannenwalde so gerne ein Weihnachtsbaum sein
wollte, und sagte bedächtig, indem er sich aufrichtete und ein paar Mal
bedeutsam schluckte:
"Mein lieber kleiner Tannenbaum, es ist zwar unmöglich, dir zu
helfen, aber ich bin eben ich und mir ist es vielleicht doch nicht
unmöglich, dir zu helfen. Ich bin nämlich mit einigen Wachslichtern,
darunter mit einem ganz bunten, befreundet, und die will ich bitten zu dir zu
kommen. Auch kenne ich ein großes Pfefferkuchenherz, das allerdings nur
flüchtig - aber jedenfalls will ich sehen, was sich machen lässt. Vor
allem aber weine nicht mehr so erschrecklich, dass es tropft."
Damit nahm der kleine Wicht einen Eiszapfen in die Hand als Spazierstock und
wanderte los durch den tiefen weißverschneiten Wald, der fernen Stadt zu.
Es dauerte sehr, sehr lange, und am Himmel schauten schon die ersten Sterne der
heiligen Nacht durchs winterliche Dämmergrau auf die Erde hinab und der
kleine Tannenbaum war schon wieder ganz traurig geworden und dachte, dass er
nun doch wieder kein Weihnachtsbaum sein würde. Aber da kam's auch schon
ganz eilig und aufgeregt durch den Schnee gestapft, eine ganze kleine
Gesellschaft: der Wicht mit dem Eiszapfen in der Hand und hinter ihm sieben
Lichtlein - und auch eine Zündholzschachtel war dabei, auf der sogar was
draufgedruckt war und die so kurze Beinchen hatte, dass sie nur mühsam
durch den Schnee wackeln konnte.
Wie sie nun alle vor dem kleinen Tannenbaum standen, da räusperte sich der
kleine Wicht im Moosröcklein vernehmlich, schluckte ein paar Mal gar
bedeutsam und sagte:
"Ich bin eben ich - und darum sind auch alle meine Bekannten mitgekommen.
Es sind sieben Lichtlein aus allervornehmstem Wachs, darunter sogar ein buntes,
und auch die Zündholzschachtel ist aus einer ganz besonders guten Familie,
denn sie zündet nur an der braunen Reibfläche. Und jetzt wirst du
also ein Weihnachtsbaum werden. Was aber das große Pfefferkuchenherz
betrifft, das ich nur flüchtig kenne, so hat es auch versprochen zu
kommen, es wollte sich nur noch ein Paar warme Filzschuhe kaufen, weil es gar
so kalt ist draußen im Walde. Eine Bedingung hat es freilich gemacht: es
muss gegessen werden, denn das müssen alle Pfefferkuchenherzen, das ist
nun mal so. Ich habe schon einen Dachs benachrichtigt, den ich sehr gut kenne
und dem ich einmal in einer Familienangelegenheit einen guten Rat gegeben habe.
Er liegt jetzt im Winterschlaf, doch versprach er, als ich ihn weckte, das
Pfefferkuchenherz zu speisen. Hoffentlich verschläft er's nicht!"
Als das Männchen das alles gesagt hatte, räusperte es sich wieder
vernehmlich und schluckte ein paar Mal gar bedeutsam und dann verschwand es im
Erdloch. Die Lichtlein aber sprangen auf den kleinen Tannenbaum hinauf und die
Zündholzschachtel, die aus so guter Familie war, zog sich ein
Zündholz nach dem anderen aus dem Magen, strich es an der braunen
Reibfläche und steckte alle die Lichtlein der Reihe nach an. Und wie die
Lichtlein brannten und leuchteten im tiefverschneiten Walde, da ist auch noch
keuchend und atemlos vom eiligen Laufen das Pfefferkuchenherz angekommen und
hängte sich sehr freundlich und verbindlich mitten in den grünen
Tannenbaum, trotzdem es nun doch die warmen Filzschuhe unterwegs verloren hatte
und arg erkältet war. Der kleine Tannenbaum aber, der so gerne ein
Weihnachtsbaum sein wollte, der wusste gar nicht, wie ihm geschah, dass er nun
doch ein Weihnachtsbaum war.
Am anderen Morgen aber ist der Dachs aus seiner Höhle gekrochen, um sich
das Pfefferkuchenherz zu holen. Und wie er ankam, da hatten es die kleinen
Englein schon gegessen, die ja in der heiligen Nacht auf die Erde dürfen
und die so gerne die Pfefferkuchenherzen speisen. Da ist der Dachs sehr
böse geworden und hat sich bitter beklagt und ganz furchtbar auf den
kleinen Tannenbaum geschimpft.
Dem aber war das ganz einerlei, denn wer einmal in seinem Leben seine heilige
Weihnacht gefeiert hat, den stört auch der frechste Frechdachs nicht mehr.
Manfred Kyber, 1880 -
1933 |
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